Online-Beitrag der ZKM

Eingangszahlen oder Konflikte? (Dudek, ZKM 2024, ZKM0068020)

Angesichts der sinkenden Prozesszahlen befürchten Viele einen Bedeutungsverlust der Justiz. Der Zugang zum Recht hängt jedoch nicht von der Justizstatistik ab. Der nachstehende Diskussionsbeitrag lenkt den Blick auf eine sich wandelnde Wahrnehmung von Konflikten und deren Vermeidung, auf die von einem potentiellen Konflikt Betroffenen und die Anwaltschaft als Konfliktbeteiligte.

I. Ausgangspunkt
II. Gesellschaftlicher Kontext

1. Forderungen der Fachcommunity
2. Alternative Untersuchungen
3. Die Rechtssuchenden
4. Fragestellungen
III. Eingangszahlen oder Konflikt?
1. Worum geht es?
2. Aktuelle Konfliktbewältigung
IV. Die Rolle der Anwaltschaft
1. Vertrauensverlust der Justiz?
3. Belastung der Richterschaft
4. Vermeidungsstrategien
V. Schluss

I. Ausgangspunkt

Das BMJV schrieb am 13.9.2019 das Projekt „Erforschung der Ursachen des Rückgangs der Eingangszahlen bei den Zivilgerichten“ aus. Der Forschungsgegenstand war durch sieben Fragegruppen mit insgesamt 22 Einzelpunkten nach den Vorstellungen des BMJV vorgegeben. Im April 2023 wurde der Bericht vorgestellt: „Der Rückgang der Eingangszahlen bei den Zivilgerichten – Ursachenforschung, Analyse und Empfehlungen“. Das BMJ machte sich aus dem Bericht vor allem vier Gründe für den Rückgang der Fallzahlen zu eigen: (1) vermehrte vorbeugende Konfliktlösungen, (2) hohe Belastungen der Rechtssuchenden durch das staatliche Gerichtsverfahren, (3) Filterfunktion von Anwaltschaft und Rechtsschutzversicherungen und (4) justizorganisatorische Faktoren wie schleppende Digitalisierung und der häufige Richterwechsel. Weder die Ergebnisse des Berichts noch das Resümee des BMJ vermochten zu überraschen.

Dabei ist lediglich der letzte der genannten Gründe unmittelbar durch die Justiz beeinflussbar. Besteht deren Veränderungspotential also lediglich in beschleunigter Digitalisierung und verbesserter Karriereplanung für die Richterschaft? Oder formulierte das BMJV die Forschungsziele womöglich bereits unter Voraussetzungen, die vorab Gegenstand einer Untersuchung hätten sein müssen? Und was ließen die Fragen des Ministeriums unberücksichtigt?

Im Folgenden sollen drei solcher Themen näher untersucht werden, nämlich der gesellschaftliche Kontext zivilrechtlicher Streitigkeiten (II.), der Unterschied von Eingangszahlen und Konflikten (III.) und die „Filterfunktion“ der Anwaltschaft (IV.).

II. Gesellschaftlicher Kontext

1. Forderungen der Fachcommunity

Nach etwa dreißig Jahren deutlicher Steigerung ging die Zahl der Zivilverfahren in den letzten zwanzig Jahren trotz des Fallgenerators „Dieselskandal“ zurück. Die interne Ursachensuche blieb erfolglos. Demgegenüber wünschte die Anwaltschaft um die 2010er Jahre gestützt auf angelsächsische Vorbilder die Durchführung von Unmet-Legal-Needs-Studien. Was sind „unerfüllte rechtliche Bedürfnisse“ insbesondere bei Bürgern, die die Angebote des Rechtsmarktes nicht kennen oder sich nicht leisten können? Vor der Bundestagswahl 2017 forderten DAV und BRAK und die damalige Opposition die Ausschreibung einer solchen Studie. Dem BMJV ging es dann im Jahr 2019 allerdings nur um den Rückgang der Fallzahlen, was von der Fachpresse gleichwohl als „Unmet-Legal-Needs-Studie“ verstanden wurde. Doch schon die jeweiligen Ausgangsfragen zeigen den Unterschied: Die Frage „Wodurch sinken die Fallzahlen?“ würde bei einer Verknüpfung der Themen unterstellen, dass es in früherer Zeit weniger „unerfüllte rechtliche Bedürfnisse“ gegeben habe.

2. Alternative Untersuchungen
Hätte das BMJV also besser – wie in anderen Ländern üblich – eine echte „Unmet-Legal-Needs-Studie“ vergeben? In Deutschland hatte sich die Rechtssoziologie in den 1960er und 1970er Jahren mit dem „Zugang zum Recht“ beschäftigt. Im Anschluss daran untersuchte man, was den Gang zum Anwalt erschwert. Allerdings widmete man sich bislang noch nicht denen, deren rechtliche Bedürfnisse unerfüllt sind oder sein sollen. Schon der Begriff „Zugang zum Recht“ gibt lediglich die Sichtweise der Juristen wieder, während es den Betroffenen um Gerechtigkeit geht. Ich nenne sie „Rechtssuchende“, auch wenn diesen Personen damit bereits ein Wille unterstellt wird, den sie womöglich nicht einmal gebildet haben. Der Bericht befragte zwei Gruppen von Rechtssuchenden: einen Querschnitt der Bevölkerung und Unternehmen. Bezogen auf den Querschnitt der Bevölkerung weist der Bericht pauschal auf ...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 29.07.2024 16:25
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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